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Channel: Reden und Predigten – 1914-1918: Ein rheinisches Tagebuch
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29. Oktober 1916

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Kriegspredigt_29101916

Stadtarchiv Bergisch Gladbach, WJ 901/5: Kriegspredigt „Jesus und der Krieg“

Alle Seiten der Predigt anzeigen: Kriegspredigt_29101916

Pfarrer Ludwig Rehse wurde am 01.02.1866 in Elberfeld geboren und verstarb am 07.11.1922 in Bad Godesberg. Er studierte in Heidelberg, Berlin und Bonn. In Bremen nahm er seinen ersten Platz im Dienste der Kirche als Hilfsprediger ein.

1892 trat Ludwig Rehse sein Pfarramt in Bergisch Gladbach an, wo er zu einem anerkannten Pfarrer seiner Gemeinde wurde. In den Jahren des 1. Weltkriegs, von 1914-1918, hielt Pfarrer Rehse in der evangelischen Kirche zu Bergisch Gladbach regelmäßig Kriegspredigten.

Kriegspredigt

von

Superintendent Rehse

am Sonntag, den 29. Oktober 1916

in der evangelischen Kirche

zu Bergisch Gladbach

Jesus und der Krieg

Preis 10 Pfg.

 

Jesus Christus gestern und heute und
derselbe auch in Ewigkeit
Brief an die Ebräer, 13,8.

Mit einer Leichenrede muss ich heute beginnen. Mit Worten des
Gedenkens an einen, an dessen Grab wir nicht stehen können.
Wir beklagen wieder den Tod eines Sohnes unserer Gemeinde, des
Wehrmanns Peter Reuschenbach. Er ist am Dienstag bei einem
Betriebsunfall in der Waffenmeisterei, in die er gerade eingestellt
war, durch eine Explosion zu Tode gekommen. In schrecklichen Tagen
und Nächten der Sommeschlacht war er kürzlich verschont geblieben;
nach Menschengedenken war er jetzt zunächst einmal der Zone des
Todes entrückt; mit einem leichten Aufatmen, mit einem großen
Gott sei Lob und Dank durften die Seinen an ihn denken, da wirft
ihn ein Unfall, wie er auch in Friedenszeiten in hundert Fabriken immer
einmal geschieht, unvermutet und plötzlich in den Tod. Eine Mah-
nung für uns alle an das Davidwort, das immer über unserem Le-
ben stehet, „wahrlich, so wahr der Herr lebt, und so wahr deine
Seele lebt, es ist nur ein Schritt zwischen mir und dem Tode.“ 27
Monate lang hat er in aller Not des Krieges gestanden, hat schwere
und schwerste Kämpfe mitgekämpft, hat unsagbare Strapazen ertragen,
hat den Krieg in seiner bisherigen Dauer nicht nur erlebt, sondern
recht eigentlich erlitten, durchlitten. Denn er war keiner von
denen, die es fertig bringen, alles Schreckliche und Entsetzliche von
sich abzuschütteln und gleich wieder aus sich herauszuwerfen, son-
dern er mußte das Furchtbare tief unten in seiner Seele verarbeiten,
und über dieser schweren Arbeit war das Haar des 37jährigen
Mannes frühzeitig ergraut. Er war ein Ernster und ein Tiefer.
Bei seiner Konfirmation, als er am 26. März 1893 hier vor unserem
Altar stand, habe ich ihm das Jesuswort gegeben: „ So sei nun
wacker allezeit und bete.“ Das ist er geworden und gewesen: ein
Wackerer allezeit und ein Beter. Wir dürfen es bekennen mit Dank
gegen Gott, und die Seinen haben daran ein Stück Trost. Im
Frieden und im Kriege war er ein Wackerer und ein Beter. Wacker
in seiner Arbeit, ein wackerer Familienvater, Sohn, Bruder und
Freund, ein wackeres Glied auch unserer Gemeinde. Wacker trat er
ein in seine Soldatenpflicht, als das Vaterland ihn hingerief von
seinem Platz am häuslichen Herd. Und ein Beter war er, einer, der den
ganzen Krieg durchlebt und durchlitten hat im Ausblick zu Gott, mit einem
starken Gottvertrauen, das er in allen seinen Briefen aussprach, vom
Feld aus ein Prediger Gottes für die seinen daheim. Diesem Gott,
in dessen Willen er sich immer wieder gestellt, sei es zum Leben, sei
zum Sterben, befehlen wir fürbittend die Seinen: „ Der Herr sei mit
ihnen!“ Der Herr sei mit der Witwe und den Kindern, der Herr
sei mit den alten Eltern, mit den Geschwistern, mit dem Schwager,
der bis zum 24. Oktober ds. Js. Den ganzen Krieg an seiner Seite
in derselben Kompanie durchlebt hat; der Herr sei mit ihnen jetzt
in der Zeit des ersten Schmerzes und später auf den Wegen des
Lebens, wo der, der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf
und Bahn, auch für die Witwe und die vaterlosen Waisen wird
Wege finden, da ihr Fuß gehen kann. Ja, „der Herr sein mit ihnen!“

Stehen wir nicht mit diesem Gottvertrauen, mit dieser Ergebung
in den Willen Gottes, mit diesem Heldentum an den Wegen des
Lebens, wie der Verstorbene das alles betätigt hat in seinem Leben,
und wie wir das alles wieder für die Hinterbliebenen als Licht und
Kraft und Trost wünschen und erbitten, stehen wir damit nicht bei
Jesus, von dem wir bekennen: „Jesus Christus gestern und heute
und derselbe auch in Ewigkeit?“ Das alles ist doch etwas von dem
Besten, das Jesus gelehrt hat, nein vielmehr, das er gelebt und gege-
ben hat. Es ist ja eine große Not und eine quälende Frage ge-
worden in vielen und gerade in den ernsten Christen: haben wir
Jesus noch in diesem Krieg? Können wir noch bei Jesus bleiben
in diesem Krieg? Lässt sich das irgendwie zusammenstellen, verein-
baren ertragen, Jesus und dieser Krieg? Ja, Jesus gestern, in den
Jahren des Friedens, da war er bei uns, und wir waren bei ihm.
Jesus morgen, Gott weiß, wann dieses Morgen kommt, wann wieder
Frieden ist; dann werden wir ihn wieder suchen, haben, hören, und
er wird wieder zu uns sprechen, segnen, richten. Aber, Jetzt, heute,
da ist er von uns gewandet, und wir sehen ihn nicht mehr. Jesus
und der Krieg, das ist wie Friede und Krieg, das ist wie Verge-
bung und Rache, das ist wie Liebe und Selbstsucht, das ist wie Le-
ben und Tod, das heißt, eins schließt das andere aus, und wo das
eine ist, da hat das andere schlechterdings keinen Platz. Ja, so den-
ken und quälen sich viele.

Ein ergreifendes Bekenntnis von dieser Seelenqual ernster Christen
hat voriges Jahr in der Pfingstnummer der Wochenschrift „Christ-
liche Welt“ gestanden, geschrieben von einem Mann an der Front:
„Wenn uns Männern in der vordersten Linie die Herrlichkeit des
Lebens und Leidens unseres Herrn vorgehalten und zugemutet wird,
so können wir nur sagen, dass wir als unwert der Gemeinde solcher
Christen nicht mehr angehören….. Wieviele reden uns von
der heiligsten Persönlichkeit, die die Welt gesehen, und wissen gar
nicht, dass dieses Menschenbild in die Sozial- und Brutal-Verhält-
nisse unseres Lebens überhaupt nicht passt…… Für uns lautet
die Devise: jetzt hat der Teufel das Wort…… Da vorn im
Schützengraben sind Menschen, die haben das Radikal-Böse, das
Abgrund-Schlechte erlebt; als Masse ist es auf die eingedrungen
und hat sie eingeschlossen in ein entsetzliches Tun und Leiden des
schlechthin Sündigen. Ich will auch präzisieren, worin für mein
seelisches Erleben die Tatsächlichkeit des Bösen ihren Höhepunkt er-
reichte: im Sturmangriff aus dem einigen Schützengraben auf den
feindlichen……“

Da offenbart sich eine Kriegsnot, so schwer und schmerzlich wie
nur eine , eine seelische Kriegsnot, eine Kriegsnot des Gewissens.
Wer diese Worte einmal gehört hat, der wird sie nicht mehr ver-
gessen. Denkt nur nicht, dass ich mir anmaßte und es fertig bringen
wollte, mit dieser Predigt heute oder durch viele Predigten oder ein
Dutzend Bibelstellen diese Not hinwegzuräumen: sie ist als meine
eigene Not diese ganze Kriegszeit über still mit mir gegangen bis
auf den heutigen Tag. Aber ein gut Teil von dem , was dem ehr-
lichen Christenmenschen da im Schützengraben Qual macht, das läßt
sich hinwegräumen.

Er sagt von Jesus, diese heiligste Persönlichkeit, die je die Welt
gesehen hat, dieses Menschenbild passt überhaupt nicht in die Brutal-
und Sozial-Verhältnisse unseres Lebens – er meint des Kriegs-
lebens – hinein. Ich sollte denken, der Mann von Golgatha, der
Held des Karfreitags, der hat am Karfreitag, der hat auf Golgatha
die Brutalität, die Unmenschlichkeit, das Radikal-Böse, das Abgrund-
Schlechte, das Satanische und Viehische der Menschennatur in einer
Steigerung durchlebt und durchlitten. Das sein Bild in allen Mensch-
heitsgreulen seinen Platz behalten darf. Wir denken es uns
gar nicht völlig aus, können es nicht: Menschen werden lebendig
ans Kreuz geschlagen, mit Nägeln festgeschlagen oder mit Stricken
festgebunden zu einem langen, qualvollen Sterben; und das tun
Menschen nicht im Rausch der Wut und der ausgepeitschten Leiden-
schaften, sondern das tun Menschen mit kaltem Blut, und Hunderte
von Zuschauern sind dabei, die mit blutigen Witzen an der stunden-
langen Qual ihrer Opfer sich weiden. Wahrhaftig, eine Brutalität,
wie sie auch von den schlimmsten Greueln dies Krieges nicht leicht
überboten werden kann. Und durch solche Sozial- und Brutal-Ver-
hältnisse des Lebens ist Jesus geschritten, bis er in Golgatha endete!
Ein Druck der römischen Fremdherrschaft lag auf Land und Volk,
schlimmer als der Franzosendruck von 1806 – 1813 auf unserem Volk
und Land, und der war, weiß Gott, schlimm, brutal genug. Eine
unversorgte Armut hungerte und bettelte im heiligen Land; Kranke
und Krüppel lagen buchstäblich auf der Straße und wurden aus
der Nähe der menschlichen Wohnungen unbarmherzig fortgetrieben,
wie die Aussätzigen, die in entsetzlichen Wanderkolonnen das Land
durchstreiften, wie die Irrsinnigen, die in Gräberhöhlen hausten, nackt
wie die Tiere. Und daneben ein nur genießender Reichtum, den
Jesus in der Person des reichen Mannes festgehalten hat, der es
fertig brachte, täglich an dem armen Lazarus vorbeizugehen, der in
seinen Lumpen und in seinem Eiterverfault und mit den Hunden
um die Küchenabfälle aus dem Hause des Reichen sich balgt. Da
dind die Zöllner, die sich vergreifen an den Steuersummen, und die
ganze Öffentlichkeit weiß darum. Da sind Pharisäer, Saduzäer und
Priester, die unbedenklich über eine Leiche dahingehen, wenn es die
Behauptung ihrer Herrschaft gilt. Sind das nicht Sozial- und
Brutalverhältnisse schlimmster Art? Darin hat Jesus gelebt; er
ist ihnen nicht aus dem Wege gegangen und hat sich nicht daraus
geflüchtet in einen stillen Winkel, um sie nicht mehr zu sehen, son-
dern er ist dem Auftrage Gottes folgend gerade dahin gegangen.
Und was hat er darin getan? Er hat getröstet, geholfen, gemil-
dert, geheilt, gebessert, erlöst wo und soviel er nur konnte, der Offen-
barer und das Werkzeug der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit.
Aber er hat gegen diese Sozial- und Brutal-Verhältnisse auch ge-
kämpft mit aller Leidenschaft, mit loderndem Zorn, mit schmettern-
dem Wort, das dahineinfuhr wie klirrendes Schwert: er hat dem Ra-
dikal-Bösen die Möglichkeit geliefert auch das Abgrund-Schlechte zu
tun, sein Blut zu vergießen; er hätte ja diese Sünde den Menschen
ersparen können, wenn er fern geblieben wäre von Jerusalem und
sich irgendwo in Sicherheit gebracht hätte, wie petrus ihm riet:
„Herr, schone dein selbst, das widerfahre dir nur nicht!“ Aber wer
das Radikal-Böse, das Abgrund-Schlechte überwinden will, der muss
sich in das Abgrund-Schlechte, in das Radikal-Böse hineinbegeben,
um dem Teufel das Wort vom Mund und dem Satan die Welt zu ent-
reißen. Das hat der tiefe Denker und schmerzliche Kämpfer im Schützen-
graben nicht bedacht. Er hat ein falsches Jesusbild, von dem
die Schärfe seiner Not herkommt. Das soll nicht seine Schuld sein,
das mag Schuld der Kirche sein, die ihm Jesus nur als den Mann
der Barmherzigkeit und Liebe gezeigt hat, das mag Schuld der
Kunst sein, die das Jesusbild von dem Mann mit dem sorgfältig
gescheitelten Haupt- und Barthaar, mit den milden Frauenaugen.
mit den gepflegten Händen geschaffen und im Umlauf gesetzt hat. Der
Kämpfer Jesus, der Held Jesus, der Jesus, der das Radikal-Böse, das
Abgrund-Schlechte kennt und aufsucht und damit ringt und sich ihm
als Blutopfer ausliefert, um es zu überwinden, der sieht freilich
anders aus. Er war das eine, und er war das andere, der
Mann der Liebe, der Tröster und der Dulder, wie auch der Mann
des Kampfes, des Zornes und der Gerechtigkeit, der Richter bis hin-
ein in die Ewigkeit. Beides vereinigt er in seiner Person; gerade
so gut, wie der verstorbene Sohn unserer Gemeinde der wackere
Mann  des Friedenslebens war, der in seinen Urlaubstagen still an
seinem Herd saß und hatte sein Kindlein auf dem Schoß, so habe
ich ihn zuletzt gesehen, und dies Bild von ihm will ich behalten –
und dann war er draußen der Mann, der seine Soldatenpflicht tat
mit Waffe uns Wehr. Darum nicht nur Jesus Christus gestern und
morgen, sondern Jesus Christus auch heute, auch im Kriege, über-
all bei uns; hier unter uns mit dem Vorbild seiner Genügsamkeit
und Bruderhilfe, in den Lazaretten mit seiner Liebe und Barmherzig-
keit, vorn an den Fronten mit seinem Heldentum, an den Gräbern
mit seinem Gottvertrauen und mit seinem Ewigkeitstrost. Derselbe
auch in Ewigkeit: für alle Zukunft uns nötig: der Erlöser durch die
Macht der Liebe. Und wann wäre die Welt erlösungsbedürftiger
gewesen als jetzt? Amen.


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