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Channel: Reden und Predigten – 1914-1918: Ein rheinisches Tagebuch
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17. November 1915

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Kriegspredigt_19151117

 

 

 

 

 

 

 

Stadtarchiv Bergisch Gladbach, WM 2386: Kriegspredigten von Pfarrer Rehse

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Pfarrer Ludwig Rehse wurde am 01.02.1866 in Elberfeld geboren und verstarb am 07.11.1922 in Bad Godesberg. Er studierte in Heidelberg, Berlin und Bonn. In Bremen nahm er seinen ersten Platz im Dienste der Kirche als Hilfsprediger ein.

1892 trat Ludwig Rehse sein Pfarramt in Bergisch Gladbach an, wo er zu einem anerkannten Pfarrer seiner Gemeinde wurde. In den Jahren des 1. Weltkriegs, von 1914-1918, hielt Pfarrer Rehse in der evangelischen Kirche zu Bergisch Gladbach regelmäßig Kriegspredigten.

Kriegspredigt

von

Pfarrer Rehse

am Landesbuß- und Bettag

den 17. November 1915

in der evangelischen Kirche

zu Bergisch Gladbach

Wo bist du?

Preis 20 Pfg.

  1. Mos. 3,9: Gott der Herr rief Adam und
    sprach zu ihm: Wo bist du?

Landesbuß- und Bettag. Der Bußtag, der Bettag eines Volkes, unseres Volkes. Was für ein Segenstag würde heute sein, wenn wirklich das ganze Volk, das deutsche Volk, seine Augen in Ehrfurcht niederschlüge vor dem heiligen Gott, sein Haupt in Demut neigte und an seine Brust schlagen wollte mit der Bitte: ,,Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge alle meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.“ Ein solcher Bußtag wäre unseres Volkes würdig, unseres tapferen Volkes, das wieder einmal die Taten seiner Tapferkeit unauslöschlich hineinschreibt in das Buch der Geschichte. Denn sich zu seinen Sünden zu bekennen, seine Schuld auf sich nehmen, Buße tun ist immer Tapferkeit. Die Feigen bekennen sich nie zu dem, was sie gesagt, getan, unterlassen haben; sie leugnen es, sie drehen es anders, sie schieben es von sich weg und auf andere. So erleben wir es ja jeden Tag und auf Schritt und Tritt. Die Tapferen aber stehen ein für ihre Worte, für ihr Tun und Lassen, auch wenn es Schuld geworden ist, was sie gesagt und getan haben; sie stehen dafür ein vor Menschen und vor Gott. Wenn das unser Volk, unser tapferes Volk, heute tun würde, das wäre groß. Jesus hat einmal gesagt: ,,Es wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut“; wieviel mehr würde solche Freude im Himmel sein, wenn ein ganzes Volk Buße tun würde. Wir wissen, solche Freude wird heute nicht im Himmel sein, denn unser Volk als Ganzes tut nicht Buße. Aber kennen wir jetzt nicht, belehrt durch diesen Krieg, was das heißt: für euch, für andere? Das, was unsere Tapferen draußen schaffen mit ihren Waffen, mit ihrem Siegen und Sterben, schaffen sie es nicht für uns? Kommt es nicht uns allen zu gut? Ist es nicht für das ganze Volk getan, für das gesamte Vaterland? Wir haben doch erst in diesem Kriege begriffen, was das ist: ein Volk, ein Volksverband; diese innigste, durch tausend und abertausend Fäden gewobene Zusammengehörigkeit von Menschenmillionen, die alles gemeinsam macht, vom Brot bis zu Gott. Die Augen sind uns geöffnet worden, das, was von den Einen getan wird, für die Andern mitgetan ist, was die Einen im Volke tun, für alle wirkt, im Guten und im Schlimmen. Daher wenn auch in dieser furchtbaren Zeit des Todes und der Tränen unser Volk als Ganzes nicht sich demütigt, nichts von seiner Sünde wissen will, nicht seine Seele sehnsüchtig hinwendet zu dem Bilde Christi, die das tun, seine Tapferen, seine Ehrlichen, seine Wahrhaftigen, sie tun es für die anderen mit, und das muss auch den anderen zum Segen werden.

„Wo bist du?“ ruft Gott. Ihr wisst, das ist eine Gottesfrage aus der Erzählung vom Paradies. Diese Geschichte zeigt uns den Menschen eins mit Gott; durch nichts fühlt er sich geschieden von dem Herrn seines Lebens; mit leuchtenden Augen, mit gutem Gewissen, mit reinen Händen schaut er auf zu dem gütigen Menschenvater. Das ist nun vorbei. Versuchung war gekommen; Sünde war geschehen; der Mensch versteckt sich in Scham und Trotz vor seinem Gott. Das Paradies ist kein Paradies mehr, der Mensch hat es sich selbst verdorben und zerstört. Nun muß er erschrecken vor dem Ruf, vor der an das Gewissen pochende Frage Gottes: Mensch, wo bist du?

„Wo bist du?“ Wir hören diese Gottesfrage heute gerichtet an unser Volk. Wo bist du, deutsches Volk? Da können wir stolze Antworten gehen: Wir sind in Belgien und Frankreich, wir sind in Russland und Serbien, wir sind an den Dardanellen, wir sind in den Lüften über London, wir sind unter den Wassern, bald da, bald dort; so weit wie noch in keinen früheren Kriegen erklingt gleichzeitig in den Ländern unserer Feinde die deutsche Zunge beim Gesang ihrer Marsch-, Schlacht- und Siegeslieder. – „Wo bist du?“ Wir sind in einer Arbeit der Organisation begriffen, über die alle Welt staunt, die auch unsere Feinde anerkennen müssen und nachzuahmen versuchen; wir sind tätig und erfinderisch in der Kunst, das ganze Volksleben einzustellen auf den Krieg: die Kirche, die Industrie, die Landwirtschaft, die Gesetzgebung, das Geld, die Arbeitskräfte der Kriegsgefangenen.

„Wo bist du?“ Wir sind in einer unermüdlichen Arbeit der Bruderliebe für unsere Verwundeten, für unsere Kriegsbeschädigten und Kriegsbedürftigen; vom Reichtum bis zur Bedürftigkeit, bis zu den Kindern, helfen sie alle mit; Liebe und Not schärfen unsere Sinne und machen uns fähig, immer neue Hülfsmittel zu erfinden. Alles Taten, Opfer, Leistungen, die uns das Recht geben, unser Haupt hoch zu tragen in der stolzen Freude: wir sind Deutsche.

„Wo bist du?“ So fragt Gott weiter. Warst du nicht auf einem noch höheren, stolzeren, freudigeren Wege? Bist du noch immer da, wo du beim Anfang des Krieges warst? Wir verhehlen es uns nicht: wir leben nicht mehr in der Begeisterung des Anfangs. Doch das bedeutet noch kein Fallen für uns. Das Feuer der Begeisterung hätte uns auf die Dauer verbrannt. Aber in diesem Feuer ist etwas anderes gehärtet worden, auch etwas Großes: das Pflichtgefühl. Der Krieg mit allem, was er über uns gebracht hat und noch über uns bringt, ist für uns geworden ein hartes, ehernes, unerbittliches Muß, ein kategorischer Imperativ, wie der große Preußen-Philosoph Kant es nennt, eine gebietende Notwendigkeit; und wir entziehen uns ihr nicht, wir bleiben ungebeugt unter den unerhörten Forderungen des Schicksals: wir tun unsere Pflicht, die da draußen und wir hier drinnen, tun sie oft mit verschluckten Tränen, aber dennoch bleiben wir auch unter den harten, schweren Joch der Pflicht aufrecht, stark und stolz.

„Wo bist du?“ Gott fragt noch immer weiter; er hält uns immer länger fest mit dieser Frage, und wir wollen ihm nicht ausweichen. Goethe hat einmal von Schiller gefragt und hat damit das ganze Wesen dieses deutschen Dichters gekennzeichnet:

„Hinter ihm, in wesenlosem Scheine,
lag, was uns alle bändigt, das Gemeine“

War das nicht auch weiterhin mit unserem Volke so im Anfang des Krieges? Da fühlten wir uns wie hinausgehoben über uns selbst; da waren viele Sünden wie versunken in tiefe Abgründe hinein, aus denen es keinen Aufstieg und keine Leitern mehr zu geben schien; da war alles wie eine Wiedergeburt zu neuem Leben; da sahen wir ein geläutertes Volk: da erlebten wir eine Gesundung unseres Volkslebens wie nie zuvor, da lag „hinter uns im wesenlosem Scheine, das, was uns alle bändigt, das Gemeine.“ Das Gemeine, liegt es noch hinter uns? liegt es noch im wesenlosem Scheine, wie verschwindend in der Ferne, wie gar nicht mehr da? oder ist es inzwischen zurückgekehrt? Jesus hat einmal gesagt:

„Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausgefahren ist, so durchwandelt er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht. Da spricht er denn: Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er´s leer, gekehrt und geschmückt. So geht er hin und nimmt zu sich sieben andere Geister, die ärger sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie allda; und es wird mit demselben Menschen hernach ärger denn es zuvor war. Also wird´s auch diesem argen Geschlecht gehen.“

Ist das vielleicht auch eine Verheißung für unser Volk, dass es hernach ärger mit ihm wird als zuvor? Nichts ist so schlimm wie Rückfälle; das wissen wir von Krankheiten her; ebenso ist es mit abgetanen, überwundenen, besiegten Süden: kehren sie zurück, dann wird es mit einem Menschen oder mit einem Volke ärger, schlimmer, hoffnungsloser als früher.

„Wo bist du?“ Gott fordert offene Bekenntnisse. Heute ist ein Tag, an dem es auf Bekenntnisse herauskommt, auf Bekennen unserer Sünden. Wir bekennen: es ist nicht mehr wie am Anfang, wir sind nicht mehr wie im Anfang, unser Volk ist nicht mehr wie im Anfang; wie auf ein Stück Paradies, wie auf ein Stück Höhenweg unserer Lebenswanderung, wie auf ein verlorenes, verscherztes Paradies blicken wir zurück auf jene erste Zeit des Krieges. Wir bekennen: das Gemeine ist wieder da, ist zurückgekehrt aus seinen Abgründen, Winkeln und Verstecken. Wir bekennen: die Verwahrlosungen und Straftaten der Jugend häufen sich in der langen Dauer des Krieges. Wir bekennen, daß wir Beschämendes hören müssen von der Unzucht im Lande und draußen, von Ehebrüchen bei Männern und Frauen. Wir bekennen, die Zahl derer ist im Wachsen, die leben als gäbe es keinen Krieg. Wir bekennen, daß auf vielen Bühnen und in den meisten Kinos dieselbe Sorte von Aufführungen wieder den größten Zuspruch und Beifall findet, die vor dem Kriege alle sittlichen Begriffe in Frage stellen, die Gewissen verwirrten und namentlich die Jugend verdarben. Wir bekennen, die Gewinnsucht und die Geldgier haben nicht nur Nordamerika zu unserem schlimmsten, erbarmungslosesten Feinde gemacht, sondern auch im Vaterland viele verführt und zu Feinden des eigenen Volkes gestempelt, indem sie unser täglich Brot, das notwendigerweise im Kriege teuer und knapp ist, über alle Notwendigkeit hinaus erst recht teuer und knapp machen: Kriegswucherer. Wir bekennen, daß der Leichtsinn wieder zu seiner alten Frechheit zurückkehrt, und die Genußsuchst ihre Selbstverständlichkeit wieder beansprucht. Wir bekennen, Gott, zu dem die erste Not zurückgeführt hatte, wird von vielen wieder geleugnet, sodaß sie sein Haus wieder nicht mehr kennen, sein Wort nicht mehr suchen, seine Heiligkeit und Majestät nicht mehr scheuen. Alles Sünden unseres Volkes, und es sind noch lange nicht alle Sünden unseres Volkes. – „Herr, erbarme dich unser!“

Wenn wir auf diese Sünden unseres Volkes sehen, dann will ein tiefes Verzagen über uns kommen. Ist es denn nicht so, wie es Jesus von den Rückfälligen gesagt hat? Wird jetzt nicht alles noch ärger, als es vorher war? Ich glaube, es ist nicht so! Wir empfinden es nur so, als ob alles Schlimme jetzt siebenfach schlimmer erst geworden wäre. Und seht, daß wir alle Sünde unseres Volkes so tief, so schmerzlich, so mit Ekel, Empörung und Zorn empfinden und von ihrer Last gebeugt, so tief unser Haupt neigen vor dem heiligen Gott, das ist die Gewißheit und der Trost: es ist besser geworden in unserem Volk und wird noch besser werden mit ihm. Alle jene Sünden waren ja auch vorher schon da und noch viele andere dazu. Aber die Empörung, der Ekel und Zorn über sie waren nicht da, oder doch nur bei wenigen, die verlacht und verspottet und durch alle Witzblätter gezogen wurden, wenn sie in treuer Liebe zu ihrem Volk die mahnende und warnende Stimme erhoben. Denn die öffentliche Meinung hatte vor dem Kriege begonnen, den Sünden des Volkes gegenüber stumpf zu werden; wir fanden uns achselzuckend, gleichmütig mit ihnen ab als mit den Unabänderlichkeiten des Volkslebens, und die Mahner und Warner waren den meisten lästig und verächtlich. Das aber ist die durch den Krieg gewirkte Verfeinerung und Steigerung unseres sittlichen Urteilens und Empfindens, daß uns diese Sünden schmerzen, beugen, beschämen, empören, anekeln und zornig machen, so daß ich kürzlich dem Ausspruch begegnete, auf solche Leichtsinnige, Freche und Schädlinge müßte es Bomben vom Himmel regnen, aus feindlichen Flugzeugen herab, damit sie einmal daran erinnert würden, daß Krieg ist, rings herum Tod und Verderben. Dann hätten sie allerdings, was sie verdient haben. Aber ob es helfen würde, ob sie dadurch wirklich anders, besser würden? Wir wissen es nicht. Aber das wissen wir von Christus her: es ist immer so, daß die einen die Sünden der anderen sehen, tragen, empfinden und zu Gott bringen. So nehmen wir zu unseren eigenen Sünden, die groß und viel sind, die der anderen hinzu; und auf Gottes Frage, „wo bist du?“ antworten wir: Bei dir, Vater!

Amen


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